Warum wir die beste WM aller Zeiten sehen | OneFootball

Warum wir die beste WM aller Zeiten sehen | OneFootball

Icon: OneFootball

OneFootball

Benjamin Kuhlhoff·2. Juli 2018

Warum wir die beste WM aller Zeiten sehen

Artikelbild:Warum wir die beste WM aller Zeiten sehen

Favoriten stürzen, Legenden stolpern, Fans geben einen Scheiß auf Marketingstrategien. Diese WM ist so unglaublich fantastisch. Man muss es nur zulassen.

Der amtierende Weltmeister ist raus. Mit Lionel Messi und Cristiano Ronaldo haben die beiden Säulenheiligen des Weltfußballs ebenfalls die Heimreise angetreten. Spaniens Mannschaft, über eine Dekade die unangefochtenen Könige des schönen Spiels, schied gegen Gastgeber Russland aus. 1114 Pässe spielten die Spanier im Achtelfinale. Weltrekord für ein Spiel über 120 Minuten. Und dennoch war im Elfmeterschießen Schluss. Im Eins gegen Eins mit dem Torhüter kann man eben nicht mehr abspielen.


OneFootball Videos


Kurz gesagt: Die bisherige Bilanz der WM fällt für Experten, Analysten und Marketingstrategen verheerend aus. Ist das nicht geil?

Artikelbild:Warum wir die beste WM aller Zeiten sehen

Denn in diesem WM-Sommer können wir live dabei zu sehen, wie sich der Fußball für immer verändert. Ein Fußballnaturschauspiel, das so selten vorkommt wie ein nüchterner Stadionbesuch von Diego Maradona. So eine Zeitenwende vollzieht sich eigentlich über mehrere Jahre. Jetzt passiert es in vier Wochen.

Natürlich sehen wir bei dieser WM bisher äußerst selten Fußballfeste auf dem Rasen. Aber der Anspruch an sich ist schon arrogant. Denn mal ehrlich: Die Anzahl magischer Spiele aus den vergangener Saison können die meisten Fans an einer Hand abzählen. Einer Hand mit drei Fingern. Warum sollte es bei einer WM also im Vier-Stunden-Takt Feuerwerke zu bewundern geben?

Das Tor zur Unsterblichkeit

Vielmehr sehen wir einen Wettbewerb, bei dem sich Underdogs mit einem Tor unsterblich machen können und sich jeder Favorit mit einem Gegentor bis auf die Knochen blamieren kann. So entsteht auf der einen Seite Nervosität, auf der anderen Angst. Wahrlich nicht die besten Mitspieler, wenn man den Ball ins Netz kriegen möchte. Oder gar muss, weil Sponsoren, Medien und die Fans zuhause das erwarten. Die großen Favoriten scheitern reihenweise an dieser Aufgabe. Teilweise kläglich.

Artikelbild:Warum wir die beste WM aller Zeiten sehen

Der moderne Fußball kriegt bei diesem Turnier die Quittung auf größtmöglicher Bühne. Er hat sich schließlich selbst die Luft zum Atmen genommen. Er hat sich durchanalysiert, neutralisiert, hat sich scheinbar unsterblich in Ballbesitz und Passstaffetten verliebt. In Rekorde, Serien und septisch reine Stars. Und bei all der Selbstverliebtheit hat er nun seit fast zehn Jahren vergessen, sich zu entwickeln. Stillstand ist planbar, gemütlich, schrecklich.

Die Anti-Guardiola-WM

Die Angst vor dem Unplanbaren hat Trainer, Spieler und Sponsoren dazu getrieben, den spannendsten Aspekt aus Fußball zu eliminieren: das Chaos.

Bei diesem Turnier belauern sich also die Mannschaften auf dem Rasen wie Katzen auf Mäusejagd. Es wird beobachtet, belauert, verschoben. Und wenn dann doch mal ein kleiner Fehler das perfekte Spiel für eine Nanosekunde ins Wanken bringt, dann knallt es. Das überfordert die großen Mannschaft ganz offensichtlich. Weil sie verlernt haben zu reagieren. Sie sind es gewohnt, den Ton anzugeben.

So entsteht ein orgiastisches Fest der Umschaltmomente. Die Spieler bewegen sich, als würde das ganze Spielfeld mit Dynamitstangen ausgelegt sein, ein Fehlpass kann wie ein Funke sein. Es ist wild. Es ist Anti-Guardiola-Fußball. Es ist groß.

Spätestens mit dem Ausscheiden der Spanier endet die Zeitrechnung des Ballbesitzfußballs. An seine Stelle treten die Urtugenden des Spiels: Gier, Zusammenhalt, Mannschaftsgeist. Und damit steigen automatisch die Chancen der Underdogs.

Denn Nationalmannschaften kann man eben nicht mit millionenschweren Transfers aufpimpen, bis individuelle Klasse den Ausschlag gibt. Jede Mannschaft muss mit den Spielern auskommen, die sie zur Verfügung hat. Das Leistungsgefälle wird durch Teamspirit begradigt. Mit Selbstmotivation. Vielleicht mit dem Anreiz, Geschichte zu schreiben. So entstehen kleine Schlachten, die Fans fast schon vergessen hatten.

Vermeintlich kleine Fußballnationen wie der Iran, Uruguay und Kroatien gaben der WM bisher die Farbe, den Reiz, die Faszination. Weil sie aufbegehrten, sich die Lunge aus dem Leib rannten, etwas riskierten – und damit die satt gewordenen Fußballgroßmächte in Panik versetzten.

Die Fans übernehmen, was Spieler nicht mehr schaffen

Auf den Rängen, um die Stadien und ihren Heimatländern machen die Fans das Turnier zu einem Fest. Zu einem Zeichen für Einheit und Lebensfreude. Das kann kein Hashtag, kein Slogan, kein Instagrampost erzwingen. „The Best Never Rest“ schrieb ein Hauptsponsor auf den Rücken der deutschen Nationalmannschaft. Das kann sein, aber die Besten sind bei diesem Turnier nicht die Spieler – sondern die Fans. Mit Herzchen in den Augen schauen wir auf die Millionen Clips auf den sozialen Kanälen, die uns mitnehmen in die Wohnzimmer, Kneipen und Ekstase. Die uns teilhaben lassen, an der großen Weltparty.

Auf gewisse Art und Weise hat sich der Fußball bei dieser WM taktisch zurückentwickelt. Herz schlägt Hirn. Enthusiasmus schlägt kaltes Kalkül. Das schöne Spiel muss nicht immer das erfolgreichste sein. Jeder kann wieder gewinnen. Das ist Kleine-Leute-Fußball. Mehr Kreisliga als Champions League.

Es passiert vor unseren Augen.

Es ist fantastisch.