Kolumne: Steht Deutschland schon vor dem Aus, André Schubert? | OneFootball

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Helge Wohltmann·21. Juni 2018

Kolumne: Steht Deutschland schon vor dem Aus, André Schubert?

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André Schubert begleitet die WM für uns in seiner neuen Kolumne. Der ehemalige Gladbach- und Pauli-Trainer wird sich regelmäßig bei uns zu Wort melden und uns die Geschehnisse rund um das Turnier in Russland erklären.

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diese Niederlage gegen Mexiko hat uns alle kräftig durchgeschüttelt.

Alarmierend

Was für mich bei der Niederlage gegen Mexiko besonders alarmierend war, war der körperliche Zustand der deutschen Mannschaft. Die Spieler waren im Kopf und in den Beinen viel zu schwerfällig, wirkten träge und müde. Mexiko war trotz höherem Durchschnittsalters flink, schneller auf den Beinen, handlungsschneller in den Situationen. Es war sonst immer eine Stärke der deutschen Mannschaft, dass sie bei Turnieren auf den Punkt topfit und dem Gegner körperlich überlegen war. Auch im Zweikampfverhalten wurde dies überdeutlich. Die Mexikaner eroberten den Ball und waren schon wieder weg, während die deutschen Spieler noch lamentierten. Das sind Basics, die fehlten und das haben wir so noch nicht von dieser Mannschaft gesehen.

Beängstigend: Die Probleme im taktischen Verhalten

Die deutsche Mannschaft war komplett weg von ihrer Spielidee. Und die bedeutet Dominanz, Ballbesitz und ein schnelles, sicheres Kombinationsspiel, um die gegnerische Abwehr mit Positionswechseln und Gegenbewegungen zu destabilisieren. Ein Angreifer kommt dem Ball entgegen und zieht einen Innenverteidiger mit (ansonsten ist er frei und anspielbar), aus dem Rückraum startet dafür ein Spieler in die Tiefe, in den frei werdenden Raum. Das sind einfache Verhaltensprinzipien, die zu unserer DNA gehören. Solche Bewegungen, die schwer zu verteidigen sind, haben wir viel zu selten gesehen.

Das Positionsspiel, das für unseren Ballbesitzfußball so wichtig ist, war ebenfalls nicht gut. Normalerweise werden die Flügel immer wieder von den nachrückenden Außenverteidigern besetzt, Thomas Müller und Julian Draxler ziehen dafür mehr ins Zentrum. Gemeinsam mit Mesut Özil haben wir dann zwischen der gegnerischen Mittelfeld- und Abwehrkette gleich mehrere Spieler, die durch kurze schnelle Pässe miteinander kombinieren können. Gegen Mexiko waren wir aber in den Räumen zwischen den Ketten unterbesetzt, hatten kaum Anspielstationen.

Und dadurch nahmen wir uns noch eine weitere Stärke, das Gegenpressing. Vorraussetzung dafür sind u.a. genug Spieler in Ballnähe, die sofort Druck erzeugen können. Das konnten wir nicht annähernd, Mexiko konnte sich oft problemlos aus der Bedrängnis spielen. So auch beim Gegentor.

Und damit kommen wir zu einer weiteren Bedingung für Gegenpressing: Das Zustellen der Rückräume, also die enge Deckung der lauernden gegnerischen Stürmer, wie etwa Chicharito beim 0:1. Mats Hummels und Jérôme Boateng standen zehn bis 15 Meter hinter dem an der Mittellinie wartenden Stürmer. Hummels muss hier eng an den Mann rücken, beim Anspielversuch wäre der Ballgewinn wahrscheinlich gewesen, zudem abgesichert durch Boateng.

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So aber kam Hummels viel zu spät und es folgte ein weiterer Fehler. Denn wenn er nicht auf den Stürmer zugreifen kann, dann muss er seine Position halten, um die Kompaktheit der Abwehr nicht zu gefährden. So lief alles falsch. Chicharito kam, legte den Ball direkt ab und startete auf Nimmerwiedersehen in die Tiefe. Nun hätte einzig Özil noch etwas retten können, in dem er den Haken nach innen zustellt und eher den Abschluss mit dem linken Fuss aus spitzen Winkel zulässt.

Aber es war ja nicht der einzige Konter der Mexikaner, die fahrlässig mit ihren Möglichkeiten umgingen. Immer wieder agierten wir unabgestimmt, boten riesige Räume an und konnten dies auch nicht abstellen. Und das wäre möglich gewesen, denn funktioniert ein Gegenpressing nicht, ist die Alternative ein schnelles Umschalten und zurückziehen in die defensive und kompakte Grundformation.

Die Probleme im zentralen Mittelfeld

Mexiko war taktisch gut eingestellt und machte ein starkes Spiel. Doch allein damit ist unsere Unordnung nicht zu erklären. Besondere Probleme hatten wir im Defensivverhalten im zentralen Mittelfeld. Meiner Ansicht nach brauchen wir hier einen klaren Sechser! Khedira und Kroos waren im Spielaufbau mal beide hinten und mal beide vorne, eine klare Aufgabenverteilung war nicht zu erkennen. Ein klarer Sechser spielt enger an der eigenen Abwehrkette, organisiert die Absicherung und das Gegenpressing. Das war beispielsweise einer der ersten und wichtigsten Schachzüge von Jupp Heynckes bei Bayern, als er mit Javi Martínez einen solchen Sechser benannt hat. Auch bei der WM ist diese Schlüsselrolle meist klar vergeben: Busquets bei Spanien, Kanté bei Frankreich und Casemiro bei Brasilien sind nur einige Beispiele.

Man kann sich diese Aufgaben auch aufteilen, doch das hat nicht funktioniert, und ich befürchte, dass dies in dieser Drucksituation auch nicht gelingt, eine perfekte Kommunikation ist dafür nämlich unverzichtbar.

Was sollte Löw jetzt ändern?

Ich halte wenig davon, jetzt das System oder gar die gesamte Spielidee zu ändern. Es geht vielmehr darum, die eigene Idee besser umzusetzen, sich der eigenen Stärken bewusst zu werden. Löw muss die Niederlage schonungslos analysieren und individuelle Verantwortlichkeiten klar benennen, aber er wird keine Schuldzuweisungen oder Sündenböcke suchen, das macht keinen Sinn. Außerdem muss er die Basics wie Körpersprache und Leistungsbereitschaft ansprechen. Ich hatte im Vorfeld eine der großen Herausforderungen Löws genannt, auf den Punkt genau die Spannung aufzubauen, die notwendig ist, um Widerstände zu überwinden. Das hat im ersten Spiel absolut gefehlt und an diesem Spannungsaufbau müssen vor allem auch die Spieler arbeiten!

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Taktisch müssen wohl noch einmal die Grundsätze des deutschen Positionsspiels klar definiert werden. Gleiches gilt für die Aufgaben im zentralen Mittelfeld, wer sichert ab? Rücken beide Außenverteidiger vor oder geschieht dies im Wechsel?

Sollte Löw jetzt wechseln?

Personelle Alternativen gibt es genug. Hector wird wieder für Plattenhardt reinrücken. Marco Reus war ein belebendes Element und Julian Brandt hat mir in den wenigen Minuten, die er auf dem Feld stand, gut gefallen. In der Innenverteidigung hat man mit Süle eine Alternative und auch Sebastian Rudy kann ein Kandidat als Sechser sein.

Löw wird jetzt aber nicht anfangen, fünf oder sechs Leute auszuwechseln. Er ist kein Fan von Aktionismus und wird keine Spieler herausnehmen, nur um ein Zeichen zu setzen. Den Konkurrenzkampf schüren ja, aber zu viel kann auch verunsichern. Die Anzahl der Wechsel hängt wohl auch davon ab, wie sich die Spieler körperlich fühlen, welchen Eindruck sie machen. Sind sie frisch und wie viel Tempo zeigen sie im Training?

Bei aller Kritik wird das Trainerteam aber auch wieder den Fokus auf die Stärken des Teams lenken. Letztlich müssen die Spieler wieder mit Mut und Selbstvertrauen auflaufen. Dieses Vertrauen in die eigene Spielidee, in die eigene DNA, ist sehr wichtig.

Ich erwarte Schweden nicht so stark wie Mexiko, aber sie werden uns insbesondere in der Defensive vor eine Geduldsprobe stellen. Wir müssen also unbedingt ein gutes Positionsspiel haben und den Ball schnell und sicher laufen lassen. Ich vergleiche das immer mit einer Mauer, die man an verschiedenen Stellen anbohren muss. Ich probiere es mal hier und mal da und spiele wieder zurück, wenn es nicht funktioniert. Solange, bis die Mauer bröckelt und sich Lücken bieten. In die muss dann schnell und entschlossen hineingestoßen werden.

Dafür sind also genau die Qualitäten notwendig, die die deutsche Mannschaft früher schon gezeigt hat und auf die sie sich nun wieder besinnen muss. Aber der Druck ist groß und wir dürfen sehr gespannt sein, ob Team und Trainerstab die richtigen Antworten finden.

Drücken wir alle die Daumen, denn wir wollen doch alle noch etwas länger mitfiebern dürfen!