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Benjamin Kuhlhoff·9. Mai 2019

Darum waren die Champions-League-Wunder überhaupt erst möglich

Artikelbild:Darum waren die Champions-League-Wunder überhaupt erst möglich

Die beiden Halbfinalrückspiele der Champions League haben bewiesen, dass Taktik, Technik und individuelle Klasse allein keine Erfolgsformel bilden. Denn ein Faktor kann im Fußball alles ins Wanken bringen. Der Versuch einer Erklärung.

Fußball ist wunderschön. Fußball ist schlimm. Fußball ist simpel. Natürlich würden einem Fans des FC Barcelona und Ajax Amsterdam diese These heute um die Ohren hauen. Und auch Taktiknerds auf der ganzen Welt rollen bereits gelangweilt die Augen. Ist es doch ihre Aufgabe, das schlichte Spiel mit Bedeutung aufzuladen. Das Unerklärliche zu erklären. Aber mal ehrlich, braucht es Erklärungen, wenn man gerade von der rohen Kraft des Fußballs überrollt wurde?


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Als Ajax Amsterdam gestern Abend mit einer 2:0-Führung aus der Kabine kam, glaubte niemand auf der Welt an ein erneutes Fußballwunder. Zu dominant, zu überzeugend, zu selbstverständlich war die Elf von Erik Ten Hag in diesem Spiel aufgetreten. Jede Aktion in der ersten Halbzeit schien dem Gegner ins Gesicht zu schreien: „Heute ist unsere Nacht. Diese Saison ist unsere Saison!“

So war Ajax durch die gesamte Champions-League-Saison geritten. Gerade ab dem Achtelfinale wirkte das junge Team unaufhaltsam. Breit grinsend kickten sie erst Real Madrid und dann Juventus Turin aus dem Wettbewerb. Ein Vorhaben, das in der Theorie so unrealistisch klang wie der Plan der Politik, die Stadt Amsterdam für Kiffertouristen unattraktiv zu machen. Doch es gelang. So wunderschön.

Einerseits weil Ajax mit einer begnadeten Mischung aus jungen Supertalenten, erfahrenen Schlachtrössern und einem betörend stringenten Plan ins Rennen ging. Doch all diese Zutaten wären einigermaßen wertlos, wenn es nicht auch diese eine geheime Kraft im Fußball geben würde, die alles verändert: das Momentum.

Jene Kraft, die einer Mannschaft Flügel verleihen und dem Gegner die Bleischuhe anziehen kann. Die den Ball auf unerklärliche Weise aus den Händen des Torhüters flutschen, durch die Beine des Mittelfeldmannes rollen oder auf den Kopf des viel zu kleinen Stürmers pingpongen lässt. Jeder, der Fußball spielt, hat diese Kraft schon einmal gespürt. Im Trainingsspiel, beim Saisonauftakt, im Pokalfinale. Jeder hat sich schon mindestens einmal verzweifelt gefragt: Was passiert hier gerade?

Genau diese Kraft, die Ajax über die ganze Champions-League-Saison unter die Arme gegriffen hatte, trat der Mannschaft in der zweiten Halbzeit mit voller Wucht in die Eier.

Es lief die 54. Minute als Ajax völlig unnötig, vielleicht sogar etwas überheblich, einen Freistoß aus dem Halbfeld an den Sechzehner chipte. Mathias de Ligt, bis dahin eine Art Momentum-Monumental von Ajax, war relativ sinnlos nach vorne gestürmt. Er verlor das Kopfballduell an der Strafraumkante, wurde wenige Sekunden später getunnelt und das Unglück aus zu spät kommenden und ins Leere rutschenden Defensivleuten nahm seinen Lauf.

Am Ende dieser Kette aus Fehlerchen erzielte Lucas Moura das 2:1 für Tottenham, das erst wie ein Schönheitsfehler wirkte, doch der Ajax-Mannschaft sichtbar den Stecker zog.

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Die Köpfe der Ajax-Spieler sanken nach unten, das Grinsen aus ihren Gesichtern entwich, Tadic, de Jong und de Ligt gestikulierten wilder als sonst umher. Ja, es schien, als würde die Ajax-Mannschaft das erste Mal realisieren, dass sie nicht unverwundbar sei. Ganz nebenbei, etwas ähnliches war auch der Mannschaft des FC Barcelona knapp 24 Stunden vorher widerfahren. Selbstverständliche Abläufe werden plötzlich zu einem unerklärlichen Puzzle. So schlimm.

Was folgte, war sowohl in Liverpool als auch in Amsterdam eine tragische Komödie. Die wilden Offensivgötter wichen von Minute zu Minute weiter nach hinten zurück, verloren ihren kraft- und nervenkostenden Attackefußball komplett aus den Augen. Bälle wurden plötzlich hoch hinausgeschlagen, um den Sechzehner wurden bissige Zweikämpfe gemieden, jeder Schritt kam irgendwie zu spät. In den Köpfen der Spieler wurde das Scheitern plötzlich real. Das Momentum war gekippt.

Tottenham schien anfangs selbst nicht zu realisieren, was passierte. Doch mit zunehmender Spieldauer verstand jeder Mann in grün: hoch rein spielen, die Verteidiger an Llorentes Wucht verzweifeln lassen und die Chance wird kommen. Irgendwann. So simpel.

Die Chance kam dann schließlich und – wie es sich in dieser Saison offenbar für ein Champions-League-Halbfinale gehört-  sie kam spät und dramatisch. In der 95. Minute traf Lucas Moura zum 3:2 für Tottenham, im Moment der Gewissheit sanken die Ajax-Spieler kollektiv auf den Boden. All die Energie, die Zuversicht, der Glaube schien aus ihren Körpern zu entweichen.

Wenn man sie heute Fragen würde, wie man ausscheiden kann, ohne einen Fehler zu machen, hätte niemand eine Antwort. Es waren Kleinigkeiten, angetrieben von einer Kraft, die man in keinem Gym der Welt trainieren kann. Es ist die Kraft, die Fußball trotz aller Versuche, ihn einzudämmen, unberechenbar macht. Und die Kraft, die den Fußball zu dem macht, was er für uns ist.

Wunderschön. Schlimm. Simpel.